Tanz der Ahnen – Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea
Archaische Kulturschätze vom Ende der Welt, so radikal wie die Moderne: Formenvielfalt und Drastik der Papua-Kunst vom Sepik-Fluss sind beispiellos. Eine grandiose Schau im Martin-Gropius-Bau versammelt nun faszinierende Spitzenstücke aus ganz Europa.
Papua-Neuguinea im Westpazifik ist linguistisch das reichste Land der Erde. Die rund 6,7 Millionen Einwohner sprechen mehr als 800 Sprachen und Dialekte; das entspricht – je nach Zählung – elf bis 25 Prozent aller Sprachen weltweit. Im Norden der Halbinsel mäandert der Sepik-Strom durch eine sumpfige Ebene: Allein am Mittel- und Unterlauf des fast 1200 Kilometer langen Flusses werden etwa 90 verschiedene Idiome verwendet.
Viele werden nur von einigen 100 bis 1000 Personen verstanden; manche nur in einem einzigen Dorf. Jede Sprache hat ihre eigene mythologische Überlieferung – das macht die Kunst der Papua-Völker sagenhaft variantenreich. Doch diese einzigartige kulturelle Vielfalt ist von Auslöschung bedroht: Etliche lokale Sprachen sterben aus, und damit auch das Wissen um ihre Traditionen. Oft können heute Lebende die Formen und Symbole nicht mehr erklären, die noch vor drei oder vier Generationen in Gebrauch waren.
Sepik-Mündung erst 1886 entdeckt
Beides – kulturellen Reichtum und Verlust der Erinnerung – zeigt eine hervorragende Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau, die anschließend nach Zürich und Paris wandert. „Tanz der Ahnen“ umfasst rund 220 Exponate: das Beste vom Besten, was in knapp 150 Jahren in der Sepik-Region gesammelt wurde und nun in zwölf bedeutenden ethnologischen Museen Europas aufbewahrt wird. So eine Präsentation von Spitzenstücken der Kunst aus Ozeanien war hierzulande wohl noch nie zu sehen.
Lange blieb diese Weltgegend unerforscht: Erst 1886 wurde die Mündung des Sepik von einem deutschen Schiff entdeckt. Das Kaiserreich verleibte Nord-Neuguinea seinem Kolonialreich ein und schickte Expeditionen dorthin; die letzte und größte endete kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Danach übernahm Australien die Verwaltung des Gebiets bis zur Unabhängigkeit des Landes 1975. Bis dahin hatten vor allem Missionare und Ethnologen den Strom bereist und Artefakte der Bewohner eingetauscht.
Herkunft + Bedeutung kaum bekannt
Sie erregten früh Aufsehen im Westen: Ihre raffiniert stilisierte, absolut andersartige Formensprache übertraf an Exotik alles, was man bis dahin kannte. Man bewunderte die aufwändigen Schnitz- und Flechtwerke, verstand aber ihre rituelle Bedeutung nicht. Beim Erwerb wurde vielfach versäumt, die Herkunft festzuhalten, so dass oft kaum bekannt ist, woher Objekte stammen – geschweige denn, wozu genau sie dienten.
Daher ist die Schau gleichsam als Rundgang durch eine Art Muster-Dorf am Sepik angelegt. Dort kommt man auf dem Wasserweg an: Ausgestellt sind zwei lange Boote, ein Einbaum und ein Auslegerboot, überreich mit Schnitzereien verziert. Früher waren sie übliche Transportmittel der Flussbewohner; heute werden sie in dieser Form nicht mehr hergestellt.
Kopulierendes Paar auf Sago-Schale
Dann betritt man ein Wohnhaus, die Domäne der Papua-Frauen, und lernt ihren Hausrat kennen. Wie Kochgerät und Essgeschirr für Pudding und Fladen; das Mehl dafür wird aus dem Mark der Sago-Palme gewonnen. Die meisten Geräte sind komplett dekoriert – etwa mit einem abstrahiert kopulierenden Paar auf einer Schale: Fruchtbarkeit ist in diesen kleinen Gemeinschaften überlebenswichtig.
Wertvolles wird an der Pfahlhaus-Decke an Haken aufgehängt. Sie sind fantasievoll als menschliche Figuren gestaltet, die große runde Holzscheiben bedecken: um Ratten abzuhalten. Kleine Haken haben auch die mannshohen malu-Bretter, die kleinteilig durchbrochen sind, so kunstvoll wie orientalische Fenstergitter – doch abgesehen vom Namen weiß man fast nichts über sie.
Alles den Ahnen verdanken
Anders bei der Ausstattung der Männerhäuser, die im Dorfzentrum vor dem Tanzplatz stehen: Sie sind erwachsenen Männern vorbehalten und beherbergen den materiellen wie spirituellen Reichtum der Gemeinschaft. Hier werden in Ritualen die Geister der Vorfahren beschworen; Masken machen ihre Anwesenheit sichtbar. Es gibt nichts Wichtigeres: Alles, was die Lebenden haben, verdanken sie ihren Ahnen.
Dabei werden etliche Kultgegenstände verwendet: mächtige Schlitztrommeln aus einem Baumstamm oder lange Flöten; nur Eingeweihte dürfen sie spielen. Aber auch bei uns unbekannte Instrumente: Schwirrhölzer, die man in der Luft kreisen lässt, und Wassertrommeln, die in Erdlöcher gestoßen werden – beides erzeugt Geräusche, die Lauten des Krokodils ähneln sollen. Während der Initiations-Riten werden die Novizen von ihm symbolisch geschluckt und danach wieder ausgespieen; daran erinnern später Schmucknarben auf ihrer Haut.
Zunge geht nahtlos in Penis über
Das Krokodil als Herrscher des Wassers spielt in der Mythologie eine ebenso große Rolle wie die Schlange, sein Widerpart auf dem Land. Beide Geistwesen können ineinander übergehen, wie überhaupt alles sich in etwas Anderes verwandeln kann: Ahnengeister in Bäume, Steine, Tiere oder Menschen und umgekehrt. Das Äußere ist nur eine Hülle: Gestaltwechsel als universelles Prinzip stellen Papua-Kunstwerke in unzähligen Spielarten dar.
Da mutieren Köpfe zu Vogelleibern, Nasen werden zu langen Schnäbeln oder mit Schweinehauern gespickt, eine endlose Zunge geht nahtlos in einen Penis über. Augen und Münder sind als konzentrische Kreise oder schiefe Schlitze geformt, die diabolisch zu grinsen scheinen. Beim yipwon – einer Helfer-Figur für Jäger – ist der menschliche Körper zum Flachrelief abstrahiert: Fratzenkopf mit spitzigem Kinn, klobiger Fuß und die Innereien als drei Halbkreise.
Hängeregal mit gespreizter Vulva
Krass naturalistisch sind dagegen breite Haken für Männerhäuser gestaltet: aus Frauenfiguren mit gespreizten Beinen, die im Spagat ihre Vulva zeigen – quasi als Hängeregal. Nicht nur diese Drastik, sondern der ganze Formenkanon der Sepik-Leute ist unvergleichlich. Ähnliche Alltags- und Ritualgegenstände kennen auch indigene Kulturen in Asien, Afrika und Lateinamerika – doch kaum diese Ästhetik der Dissonanz, der Lust an Verzerrung und Transformation, der irrwitzigen Kombination von eigentlich Unvereinbarem.
Da erscheint der Expressionismus im Vergleich zu Papua-Kunst geradezu als harmoniebedürftig. Hiesige Betrachter empfinden diese Arbeiten oft als abweisend, aggressiv oder dämonisch – aber sollen sie so wirken? Ethnologen haben emsig Sozialstrukturen und Weltbilder dieser Völker ergründet, doch zu ihrem überbordenden Formenreichtum können sie wenig sagen. Diese wissen es selbst nicht: Sie halten sich an den überlieferten Kanon, das ist alles.
Atemberaubende Ästhetik der Isolation
So umwittert diese komplexe Kunst ein großes Geheimnis, das vermutlich nie gelüftet wird: Es heißt, dass alle paar Monate eine der vielen Papua-Sprachen ausstirbt, und mit ihr die Kenntnis der jeweiligen Kultur.
Man kann nur staunen: über diese atemberaubende Ästhetik, die archaisch lebende Menschen in Jahrhunderte langer Isolation hervorgebracht haben – mit einer rigorosen Radikalität, die von der Moderne kaum überboten wird. Rasch hinsehen, bevor alles verschwindet: Ein derart hochklassiger Überblick über diese Kunst wird in den nächsten Jahrzehnten wohl nicht mehr geboten.
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